was wäre, wenn … (gastbeitrag)

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Es ist wieder Blogwichtelzeit – Kolleginnen aus dem Netzwerk Texttreff schenken sich gegenseitig Blogbeiträge. Einen ganz besonderen habe ich von meiner Kollegin Alice Grünfelder bekommen:

2011-09-23 17.28.21paris-haeuserIn unregelmäßigen Abständen packt es mich, ein unbestimmtes Fernweh nach Orten, an denen ich längere Zeit meines Lebens verbrachte. Mal ist es China, diesen Herbst war es Paris. Immer wieder und grundlos trifft es mich, beim Blick in den Himmel, den es so in Paris nicht gibt, weshalb also? Bei einem bestimmten Lichteinfall, einer Häuserfassade, die mich an eine Straßenecke im 7. Arrondissement erinnert, ohne dass ich den Grund zu benennen wüsste. Beim Lesen in Gesichtern in Cafés und Straßenbahnen, in Zeitungsartikeln über Schriftsteller wie Paul Nizon, in den sich die Stadt eingeschrieben hat, in Kurzkrimis von George Simenon, in denen sich die Gehässigkeiten zwischen Vorder- und Hinterhaus zuspitzen zu Morden.

Oder IMAG0530_webkam dieses Sehnen daher, weil ich mich zeitgleich für eine Künstlerwohnung beworben hatte, vier Wochen schreiben und recherchieren über die Zeit Anfang der achtziger Jahre, als der Rap nach Paris kam? Fahre ich, auch wenn ich die Wohnung nicht bekomme? Jedenfalls war dieses Ziehen wie eine verbotene Liebe, die in Gelenken hockt und sich bei jedem Kälteeinbruch bemerkbar macht. Dabei hatte mich die Stadt vor Jahrzehnten schon einmal enttäuscht, frustriert und von sich gestoßen. Damals litt ich jahrelang an diesem Paris-Fieber, gab mich ihm hin, schien später genesen. Doch jetzt musste ich feststelle, dass diese Frankophilie wie ein Bazillus in all den Jahren nur schlummerte, ich fieberte wieder. Paris! Warum sollte ich? Sollte ich überhaupt?

Was wäre gewesen, wäre ich am 13. November in einem der Cafés in der Nähe der Place de la Republique gesessen, wie ich es vermutlich jeden Abend getan hätte, hätte ich die Wohnung bekommen? Denn dort im Le Bataclan wurde in den 80er Jahren einmal die Woche gerappt, von dort schwappte Hip-Hop und Rap in die Banlieus und weiter in die arabischen Länder.

IMAG0532_webHätte ich mich rechtzeitig ducken können hinter einem Tisch, hinter einer Theke? Wäre ich traumatisiert wegen des Anblicks der Oberkörper vornübergebeugt, als würden sie nur noch rasch die Speisekarte lesen wollen? Hätte ich mich verstecken können in einer Ecke, hätte ich ausgeharrt in einer Wohnung, derweil Meldungen wie „Paris von Terroristen heimgesucht“ über Displays flackerten?

Ich bin nicht gefahren, weil ich die Wohnung nicht bekommen habe. Das Sehnen nahm ein jähes Ende, war das Sehnen womöglich ein Ahnen gewesen?

Nur kurz überlegte ich, was wäre, wenn ich deshalb nicht mehr reisen würde? Fortan zu Hause bleiben? Und verwarf den Gedanken wieder.


Ganz herzlichen Dank für den Beitrag und die tollen Graffitti-Bilder, liebe Alice!

 

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